Graf Taps.

Skizze von Teo von Torn.
in: „Indiana Tribüne” vom 11.07.1905
in: „Über Land und Meer” 1905 Seite 594+595
in: „Suriname”: koloniaal nieuws- en advertentieblad vom 08. + 12.05.1908


Schneeflocken wie große Wattebausche . . .

Die Nußbäume an der Chaussee, unter denen der Moorwinkeler Schlitten dahinglitt, waren so dick bepackt, daß nur wenige tiefhängende Zweige aus der schweren weißen Umhüllung herauslugten. Auf der Windseite kletterte der Schnee sogar an den runzligen Stämmen empor und schlug Brücken zu den Chausseesteinen, die er in dicke Pelze gesteckt und mit grotesken Mützen versehen.

Alles weiß in weiß . . . und undurchsichtig.

Das harmonisch abgestimmte Gurtgeläut der Pferde klang gedämpft und wie von fernher. Nur wenn eine Krähe mit klatschenden Flügeln jäh am Wege sich erhob oder ein Ast brach und seine feuchte Last dumpf zu Boden schlug, dann scheuten die empfindlichen Gäule beiseite, und die silbernen Glöckchen schrillten heller auf.

Gerty Somborn hielt das Gespann in ihren beiden festen kleinen Händen. Die lange Schlittenpeitsche, deren Riemen am Handgelenk hing, schleifte im Schnee.

„Hast du nun genug, Irm —?” fragte das junge Mädchen, indem es den Kopf leicht zur Schwester neigte, ohne dabei die Pferde aus dem Auge zu lassen.

Irmgard von Dolega — die junge Wittwe des vor zwei Jahren in Tibet verunglückten Weltreisenden — rührte kein Glied in ihren Pelzen, in die sie bis zur Nasenspitze eingehüllt war.

Wie das behagliche Schnurren eines Kätzchens klang es, als sie erwiderte:

„Es ist wundervoll so — —”

„All right. Dann fahren wir noch um den See und über den Pariner Weg. Ist dir's recht?”

Frau Irmgard nickte.

Gerty Somborn griff noch fester in die Zügel. Die grauen rehledernen Handschuhe spannten sich zum Bersten über den kleinen Fäusten.

Ein leichtes Schnalzen mit der Zunge — und die Moorwinkeler Jucker bogen, noch flotter ausgreifend, von der Chaussee ab in den Weg zum See.

In wenigen Sekunden war dieser erreicht. Ein Strecke weit setzten die verschneiten Weidenbüsche, die sonst das ganze Ufer umrahmten, aus und gaben den Blick frei auf die große weiße Fläche. Selbst durch das dichte Gestöber blendeten hier die Reflexe der letzten Sonne.

Gerty Somborn tauchte den Blick in das Geflimmer.

„Ja, solch eine Fahrt ist famos —” sagte sie und brachte die straff ausgereckten Arme in eine etwas bequemere Haltung. Der burschikose Ton paßte nicht recht zu dem verträumt begeisterten Ausdruck ihres frischen Jungengesichtes. Lyrische Anwandlungen hielten jedoch bei ihr nicht lange an. Sie pfiff ein paar Takte halblaut vor sich hin. Dann brach sie unvermittelt ab:

„Trotzdem verstehe ich nicht, wie man so aus heiler Haut Ospedaletti mit Moorwinkel vertauschen kann. Ist doch eigentlich ein gewaltiger Unterschied! Du! Vor zehn Tagen noch mit weißem Sonnenschirm unter Palmen, und heute im nordschleswigschen Sibirien. Aus dem ewigen Frühling — — sitzt du nicht gut, Irm?”

„Ewiger Frühling —” sagte sie mit nervösem Spott. „Das ist es ja eben. Ewig! Es gibt nichts Langweiligeres als das Ewige. Ewiger Frühling, ewige Sonne und ewige Liebe — last not least . . .”

„Na, weißt du — Irm!”

Gerty Somborn lachte hell auf. Dennoch vertiefte sich das frische Roth ihres Gesichts um einige Nuancen.

„Es ist so,” bestätigte Frau von Dolega einfach. Die feinen Lippen schlossen sich herb. Ein Leidenszug — als hätte sie schweigend einen körperlichen Schmerz zu überwinden. Dann lehnte sie sich müde zurück. „Schließlich mußte ich auch wieder flüchten — vor meinem Schatten . . . dem ewigen Schatten. Von Nizza nach Nervi, von Nervi nach Ospedaletti, und von da nach Moorwinkel.”

„Graf Taps —” nickte Gerty Somborn.

Sie nahm die Leine in die Linke. In die Rechte ließ sie die Peitsche gleiten und schwang sie nach unten hin zu einem scharfen Knall. Da die Pferde stark anrückten, klammerte Frau von Dolega sich mit einem leisen Schrei an ihren Sitz.

„Laß doch das!” rief sie erregt und ungeduldig. „Die Pferde brauchen keine Hilfe!”

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Nerven beruhigten. Dann nahm sie das Gespräch wieder auf. Zerstreut und übellaunig.

„Es ist etwas Fürchterliches um die Unvermeidlichkeit dieses Menschen. Seit ich damals durch seine Schuld auf dem Eise gestürzt bin, ist er mein Horla(1). Und das ist fast noch schlimmer als Krüppel sein. Ich kann, ich mag den Taps nicht mehr sehen!”

„Er meint es gut, Irm.”

„Gut — jawohl. Wie jene unausstehlichen Schuldner, die nicht bezahlen können, dafür aber einem immerfort in den Weg laufen und um Entschuldigung bitten. Vor meiner Verheirathung die ganzen Jahre — und seit ich Wittwe bin wieder. Einförmig und dauerhaft wie der Frühling an der Riviera ist diese Liebe. Dabei — ich weiß nicht, ob du dich entsinnst — vor dem Unfalle hatte er nur Augen für dich gehabt . . .”

„Kindereien, Irm.”

„Weil du reiten und pistolenschießen konntest —”

„Ganz recht. Ich war knapp fünfzehn.”

„Und ich sechzehn. Anfang März sind es genau zehn Jahre.”

Gerty Somborn nickte, ohne den Blick von der Kruppe der Pferde abzuwenden.

„Zehn Jahre —” wiederholte Frau Irmgard und kauerte sich tiefer in die Pelze. „In dieser langen Zeit verfolgt er mich — mit den bittenden Augen eines großen Hundes. Unentwegt. Schon meine Heirath war eine Flucht, wenn ich's recht überlege. Sie hat nichts genutzt. Tausendundeinmal habe ich ihm erklärt, daß ich nicht daran denke, wieder zu heirathen — und ihn schon gar nicht. Es hat nichts genutzt. In Ospedaletti” — ein leiser Schimmer von Roth huschte über das durchsichtig zarte Gesicht — „in Ospedaletti habe ich nach ihm geschlagen. Auf offener Promenade. Als ich beim Kasino vorfuhr, sprang er wieder hinzu, um mich aus dem Wagen zu heben, trotzdem ich ihm das xmal verboten habe. Kein Mensch würde bemerken, daß ich einen etwas kürzeren Fuß habe, wenn seine tapsigen Aufmerksamkeiten nicht wären. Ich stieß ihn beiseite und stützte mich beim Aussteigen auf dem Chauffeur [sic! D.Hrsgb.]. Am Abend bin ich abgereist — heimlich natürlich. Der Mensch wäre sonst im Stande gewesen, auch nach Hause zu fahren.”

„Hat er schon gemacht.”

„Was — —?”

„Graf Taps ist seit gestern wieder auf Parin.”

Frau von Dolega zuckte zusammen. Ihre Lippen öffneten sich, aber sie brachte zunächst keinen Laut hervor. Nur die starren, graublauen Augen schienen um Hilfe zu rufen. Dann packte sie mit beiden Händen den Arm der Schwester.

„Und da führst du mich diesen Weg? Der dicht am Schlosse vorbeigeht!? Sofort umkehren, Gerty! Auf der Stelle!”

Gerty Somborn reagirte mit keiner Bewegung. Nur die kleinen Fäuste strafften sich fester um die Leinen.

„Das ist hier unmöglich, Irm,” erwiderte sie trocken. „Der Weg ist zu schmal. Außerdem habe ich ihn heute früh auf dem Anstand getrofen. Er hat mir erklärt, daß er — nach der Behandlung, die er von dir erfahren — seine Bewerbungen endgültig aufgebe.”

Einige Sekunden verharrte die Frau regungslos. Dann warf sie die Decken zurück und beugte sich vor, um die Schwester besser ansehen zu können.

„Lach mal, Gerty!”

„Weshalb —”

„Das ist doch Unsinn, was du da redest, nicht wahr? Du willst ihn mir nur weniger unausstehlich machen —”

„Nein. Er hat's gesagt. Und es ist ihm ernst, denn er hat auf Papas Einladung zur Kesseljagd eine motivirte Ablehnung geschickt.”

„Davon sagt mir kein Mensch ein Sterbenswort?”

„Du hast ausdrücklich gewüscht, daß Hektor Tappenbach in deiner Gegenwart überhaupt nicht genannt werde.”

Pfeischnell flog der Schlitten dahin.

Mit Anbruch der Dämmerung hatte der Schneefall nachgelassen. In der Ferne zeichneten sich bereits die massigen Konturen des Pariner Parks, erhob sich die Silhouette des Schloßthurms mit seiner altmodischen Zwiebelkuppel. Trotz ihrer weißen Tarnkappe trat sie immer schärfer und größer aus der nebelfeuchten Dämmerung.

Irmgard von Dolega zerrte an ihren Handschuhen. Die Flügel der Nase und die fest aufeinandergepreßten Lippen zuckten. Dann lachte sia auf — aber es klang nicht fröhlich. Ein gereiztes, hysterisches Lachen.

„Das ist Unsinn! Alles Unsinn!” rief sie. „Du bist mit Taps im Komplott! ich bin blind gewesen, das nicht zu merken. Und — vieleicht ist das noch nicht einmal alles! Ihr — ihr trefft euch heimlich! O, ich weiß —! Nein! Nicht dort vorbei! Ich will nicht! Du sollst umkehren —! Du sollst!”

Im Angesicht des Schloses und des Grafen Hektor Tappenbach, dessen Hünengestalt vom Hofe her am Wege auftauchte, warf sie sich mit dem Oberkörper auf die Arme der Schwester und griff in die Zügel.

Die Pferde scheuten wild zur Seite — der Schlitten schleuderte quer über den Weg und schlug um.

Graf Tappenbach ließ die Gäule mit dem umgestürzt schleifenden Gefährt rasen, wohin sie wollten. er sah nichts als Irmgard von Dolega, die mit schmerzhaft verzogenen Lippen und geschlossenen Augen im Schnee lag. Er litt es nicht einmal, daß Gerty Somborn ihm half, die Ohnmächtige in Decken zu wickeln. Das besorgte er allein und hob das schmächtige Körperchen in seine Arme. Mit langen Schritten eilte er dem Schlosse zu. Er athmete schwer und zitternd. Wie das Knurren eines gereizten Bernhardiners klang es, als er hervorstieß:

„Ich hab's Ihnen immer gesagt, Gerty . . . ! Diese dumme Fahrerei . . . das mußte einmal schief gehen . . . die Falben sind kein Gespann für Puppenpfoten. Und nun ist das Unglück da . . . das Unglück —!”

Mit einem Aufächzen — zwischen Heulen und Winzeln [sic! D.Hrsgb.] — preßte der Hüne die immer noch Regungslose an sich.

Gerty Somborn verantwortete sich nicht. Sie war es gewohnt, von ihm angeblafft zu werden. Die ganzen Jahre hindurch — seit Irm damals durch seine Schuld auf dem Eise gestürzt war und sich die Hüfte ausgerenkt hatte. Daß der Schwester diesmal auf der weichen, dicken Schneedecke nichts geschehen war, dessen war Gerty sicher. Irm war nur vor Schreck ohnmächtig geworden. Vielleicht auch aus Zorn. Bei der geringsten Erregung wurde sie ohnmächtig — gleichviel, ob eine Maus ihr über den Weg lief oder Papa eine der unsinnigen Rechnungen nicht bezahlen wollte. Da war also nichts dabei — jedenfalls nicht genug, um dem knurrenden und winselnden Taps einzugestehen, was sie vorhin über ihn zusammengelogen hatte — — zum ersten Male in ihrem Leben regelrecht gelogen . . .

Nach wenigen Minuten schon erwies es sich, daß sie recht gehabt — mit ihrer geringen Besorgniß ebenso wie mit der Lüge. Frau Irmgard hob die dunkelbewimperten Lider. Als sie Tapsens treue, kummervolle Augen auf sich gerichtet sah, trat Farbe in ihr feines nervöses Gesicht. Sie verzog den Mund zu einem zufriedenen Lächeln und vegrub die Finger der Rechten in sein dichtes Kraushaar.

Gerty Somborn nickte vor sich hin und schlich hinaus. Draußen aber — — draußen ist der tapferen kleinen Gerty Somborn etwas geschehen, was ihr noch nie geschehen war. Sie hat geweint . . . zum ersten Male in ihrem Leben herzlich geweint.

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Fußnote:

(1) Anspielung auf die - phantastische - Erzählung „Der Horla” (Original: „Le Horla”) von Guy de Maupassant (siehe auch den Eintrag bei Wikipedia) [D.Hrsgb.].

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